Die gotischen Gestühls-Wangen im Bayerischen Nationalmuseum

Vier von fünf Wangen sind in einer Ausstellung in München zu besichtigen

Nach dem Artikel von Fritz Schelle über das gotische Chorgestühl in der Berchtesgadener Stiftskirche möchte ich heute über die Gestühls-Wangen und deren symbolische Bedeutung berichten, die seit 1903 im Bayerischen Nationalmuseum in München sind. Dort hielt man sie für so bedeutend, dass die Umschlagseite des Museumsführers jahrelang eine Gestühls-Wange aus Berchtesgaden zierte.

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Vier der gotischen Chorgestühls-Wangen aus Berchtesgaden können heute in der Ausstellung in relativ gutem Zustand besichtigt werden; die fünfte lagert im Depot. Sie entstanden um 1340 und sind farbig gefasst. Stefan Zechmeister, der noch vor der Abgabe an das Nationalmuseum alles nachschnitzte, fügte fehlende Teile so trefflich ein, dass ihm möglicherweise noch die ursprünglichen Motive bekannt waren. Im reichen Schnitzwerk aus Wein- und Rosenstöcken sind in medaillenförmigen Kompositionen Tiere und Fabelwesen eingeschlossen. An allen Stuhlwangen windet sich seitlich eine Weinranke nach oben, die für die Überwindung des Todes durch Christus steht und den Baum des Lebens andeutet.

 

Löwe und Pelikan

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An der nordöstlichen Stirnwand werden ein Löwe und ein Pelikan von einem Rosenstrauch kreisförmig umschlungen. Der Kreis, eine immer wieder zu sich selbst zurückkehrende Linie ohne Anfang und Ende, gilt als Symbol des Alls, der Vollkommenheit und Ewigkeit. Der Stock hat sieben Rosen, die am Original wohl rot waren, denn solche weisen auf das Martyrium des Erlösers. Die Zahl sieben setzt sich aus der göttlichen Drei und der irdischen Vier zusammen und symbolisiert die allumfassende, göttliche Schöpfung. Oben steht ein Löwe mit geöffnetem Rachen über seinen drei Jungen. Die Drei weist auf die Trinität. Nach dem Physiologus, einer frühchristlichen Schrift, welche die sagenhaften Eigenschaften von Tieren und Pflanzen mit christlichen Glaubenssätzen zu verbinden suchte, kamen die Löwen tot auf die Welt und erst ihr Vater weckte sie durch seinen Atem am dritten Tag, wie Gott seinen Sohn aus dem Grab erweckte. Diese Löwen symbolisieren somit Auferstehung und neues Leben. Vom Pelikan steht im Physiologus: Er geht völlig auf in der Liebe zu seinen Kindern. Nachdem die drei Jungen ausgebrütet sind, picken ihnen diese ins Gesicht. Die Eltern hacken zurück und töten sie unabsichtlich. Drei Tage trauern sie um ihre Kinder. Dann reißt sich die Mutter mit dem Schnabel die Brust auf und erweckt die Kinder mit ihrem Blut zu neuem Leben. So gilt der Pelikan als Symbol der Liebe Gottes zu den Menschen und deren Erlösung durch Christi Blut.

 

Löwe und Hirsch (im Depot)

An der nördlichen Scheidewand beziehen sich Weinstock und Trauben auf das Altarsakrament. Der Stamm windet sich wieder zum Himmel empor. All das weist auf das Kreuz, den wahren Baum des Lebens. Oben umrankt die Weinrebe einen Löwen. Am Weinstock befinden sich acht Trauben. Die Acht bezieht sich auf die neue Schöpfung, die mit Christi Auferstehung am achten Schöpfungstag beginnt und für das neue, ewige Leben steht. Die Pflanze, welche sich links nach oben windet, hat zwölf Blätter, die auf die Apostel weisen. Der Löwe, König der Tiere, kann positive wie äußerst negative Bedeutung haben, da er von Natur aus ein alles zerfleischendes Raubtier ist, andererseits aber den Aspekt des Königs und Herrschers in sich vereinigt. „Juda ist ein junger Löwe“, heißt es im Segen Jakobs (1. Mose 49,9). So kommt es, dass Christus „Löwe aus dem Stamm Juda“ genannt und der Löwe damit auch zu einem Bild des Heilands wurde, Zeugnis für dessen Macht und Stärke. Die untere Figur ist im Bayerischen Nationalmuseum nicht mehr vorhanden. Zechmeister hat hier einen Hirsch eingefügt. „Wie der Hirsch schreit nach frischem Wasser, so schreit meine Seele, Gott zu Dir“ (Psalm 42,2). Nach Augustinus ist der Hirsch Symbol der gottessuchenden Seele. Er befindet sich unter dem Löwen, dem Symbol Christi, nach welchem die Seele ruft. Ein Hirsch mit obigem Bibelzitat steht auch am Kriegerdenkmal vor dem Ramsauer Friedhof.

 

Verschlungene Drachen

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Die Stirnwand im Nordwesten schmücken zwei ineinander verschlungene Drachen. Die christliche Symbolik setzt den Drachen oft mit der Schlange gleich. Dieser steigert jedoch noch deren dämonische Kraft. Die Schlange verführte Eva zur Sünde. Durch die Ursünde kam der Tod in die Welt, den das Paradies nicht kannte. Die zwei Drachen sind wohl Aspis und Basilisk, die Sünde und Tod bezeichnen und deren Herr der Teufel ist. Beide Reptilien unterscheiden sich durch runde und eckige Schuppen an den Körpern. Fünfmal kreuzen sich die Figuren, Hinweis auf die fünf Wunden Christi und damit auf das Kreuz des Erlösers. Infolge des Sündenfalls der Stammeltern wurde der Baum der Erkenntnis zum Baum des Gesetzes und des Todes, der sich aber durch Christi Tod am Kreuz wieder zum Baum der Erlösung wandelt. Der Gekreuzigte stieg in das Reich des Todes ab und ist am dritten Tage auferstanden. Er hat den Tod endgültig besiegt und als letzten Feind vernichtet (1. Kor 15,26). So winden sich beide Reptilien aus der Hölle dem Himmel entgegen. Die Windung nach oben bezeichnet die frohe Botschaft: Christus hat den Tod überwunden. Deshalb sprießen überall aus den Körpern Blätter, welche den Baum des Lebens veranschaulichen. Im Alten Testament brachte Adam Sünde und Tod in die Welt, im Neuen Testament der neue Adam, Christus, Auferstehung und ewiges Leben. Die südwestliche Stirnwand mitsamt einem Teil der Schrift wurde bei der Erbauung des darüber liegenden Fürstenoratoriums unter Fürstpropst Cajetan Anton von Nothafft (1732 – 1752) entfernt und ging verloren. Da die ursprünglichen Darstellungen nicht bekannt waren, hat Stefan Zechmeister das Drachen-Motiv noch ein zweites Mal eingefügt.

 

Greif und Antholops

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Das Tier unter dem Greif an der südlichen Scheidewand gleicht einem Steinbock. Sein Gehörn ist fast vollständig abgebrochen, sodass man es nicht sicher bestimmen kann. Im Physiologus findet man keinen Steinbock, sodass hier sicher der Antholops gemeint ist. Dessen Aussehen ähnelt diesem und wird wie folgt beschrieben: Er ist ein wildes Tier mit zwei sägenförmigen Hörnern als Waffe, dem der Jäger wegen seiner Stärke nichts anhaben kann. Verfängt er sich jedoch mit seinem Gehörn im Gebüsch, kann dieser ihn leicht töten. So hat auch der Mensch zwei Hörner, das Alte und das Neue Testament, mit denen er das Laster fernhalten soll, damit ihm der Teufel nichts anhaben kann. Stefan Zechmeister war das nicht bekannt, sodass er einen Steinbock dargestellt hat. Der Greif, ein Mischwesen aus Adler und Löwe, vereinigt die Eigenschaften beider Tiere: Beherrscher der Lüfte und der Erde. Dieses Sinnbild bezeichnet Christus, den König im Himmel wie auf Erden. Es verkörpert Auferstehung und Himmelfahrt gleichermaßen. Die Symbolik ist hier umso klarer, als den Greif Weintrauben, ein weiteres Christusmerkmal, umgeben.

 

Phönix und Einhorn

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Die südöstliche Stirnwand im Nationalmuseum zeigt lediglich den Vogel Phönix, der auf einem Scheiterhaufen steht. Das Medaillon darunter ist ausgebrochen. Stefan Zechmeister füllte diese Stelle mit einem Einhorn. Nach dem Physiologus lebt der Phönix nur in einem einzigen Exemplar in Indien. Alle 500 Jahre fliegt er in die Wälder des Libanon und nimmt dort mit seinen Flügeln wertvolle Gewürze auf. Der Priester von Heliopolis errichtet auf dem Altar einen Scheiterhaufen aus Rebenholz. Auf ihn setzt sich der Vogel, entzündet das Feuer und verbrennt. Am folgenden Tag findet der Priester in der Asche einen Wurm, aus dem ein neuer Phönix entsteht, der verjüngt aufsteigt. Er ist Zeichen der reinigenden, sich erneuernden Kraft des Feuers und steht für Auferstehung und ewiges Leben. Zum Einhorn mit seinem gewundenen Horn auf der Stirn meint der Physiologus, es sei ein kleines, friedliches und sanftes Tier, dem jedoch der Jäger wegen seiner Stärke nichts anhaben kann. Fangen kann es nur eine reine Jungfrau, der es freiwillig in den Schoß springt. Dieses Fabelwesen wurde daher zu einem Symbol Mariens, in deren Schoß Christus Mensch geworden ist.

 

Kirche und Kirchenpatrone

Die Stiftskirche ist den beiden Patronen Johannes der Täufer und Petrus geweiht. So hängt an der nordöstlichen Stirnwand Johannes der Täufer mit einem Buch in der Hand, welches bezeugt, dass er durch seine Predigt in der Wüste das Alte Testament erfüllt hat (Jes 40,3). Auf der anderen Seite steht der Kirchenpatron Petrus mit dem Schlüssel des Himmelreichs, zu dem Jesus sagte: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen. Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben.“ (Mt 16,18-19). Unter beiden ist jeweils der Kopf eines Engels zu sehen. Des Weiteren finden wir noch an der nördlichen Scheidewand eine Bürgerin mit Krausenhaube, aus deren Mund ein Lebensbaum wächst. Gegenüber ziert die Stuhlwand das Haupt eines Königs mit Krone. An der nordwestlichen Stirnwand ist ein Bauer abgebildet und im Südwesten müsste, auf dem nicht mehr vorhandenen Original, ein Kleriker gewesen sein. Dieser weist auf den vierten Stand, welcher sich gemeinsam mit Adligem, Bürger und Bauer in der Kirche wiederfindet. Aus jedem Mund wachsen Blätter, denn es sind ausnahmslos Erwählte, die am Ende der Zeit vom Baum des Lebens zu essen bekommen und damit das ewige Leben empfangen.

Alfred Spiegel-Schmidt

Alle Fotos von Alfred Spiegel-Schmidt

 

 

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