Das gotische Chorgestühl von Meister Marquard Zehentner

Aus der Sicht eines ehemaligen Schnitzschullehrers

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Das Chorgestühl ist ein beeindruckender Rest der einstigen gotischen Ausstattung der Stiftskirche beziehungsweise des Münsters. War dies doch über Jahrhunderte die übliche Bezeichnung für die Stiftskirche und bis ins vorige Jahrhundert noch durchaus gebräuchlich in der Bedeutung von Klosterkirche (siehe auch Münster St. Zeno). Dem dreischiffigen romanischen Langhaus des Münsters wurde von 1283 bis 1303 ein neuer, monumental dimensionierter frühgotischer Hochchor angefügt und – für eine Klosterkirche unverzichtbar – mit einem Chorgestühl ausgestattet. Das bis heute erhaltene Gestühl entstand allerdings erst in den Jahren1436 bis 1443.

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"...Marquardum de Reichenhallis ..."

Die Inschrift am Baldachin des Chorgestühls informiert uns, dass Meister Marquard Zehentner aus Reichenhall vom damaligen Propst Johann Praun mit dem Bau dieses Chorgestühls beauftragt worden war. Die Herstellung des beachtlichen Werkes in Eichenholz mit den flächendeckenden Schnitzereien beanspruchte also sieben Jahre und erforderte eine erhebliche Menge an Material. Dass der Meister seinerzeit einen Vorrat an trockenem Eichenholz von dem benötigten Umfang auf Lager hatte, ist eher unwahrscheinlich. Also mussten die spät im Jahr bei abnehmendem Mond gefällten Stämme in die für den Bau des Gestühls erforderlichen Teile zunächst gespalten beziehungsweise zurechtgesägt werden. Diese mussten nun erst ungefähr zwei bis drei Jahre so weit austrocknen, bis sie in langwieriger, mühevoller Handarbeit weiterverarbeitet werden konnten. Zahlreiche im Gestühl eingearbeitete, unverleimte Hölzer von gut 60 Zentimetern Breite lassen auf einen teilweise beachtlichen Durchmesser der Rundhölzer von 80 bis 100 Zentimetern schließen.
Die gesamte Fertigung erfolgte nun, wie zu dieser Zeit nicht anders möglich, ausschließlich in Handarbeit! Nicht ganz auszuschließen wäre allerdings auch, dass beim Zuschnitt der Einzelteile, also Bretter und Kanthölzer in verschiedenen Stärken, bereits eine mechanische Säge, also ein Sägewerk, eine Sägemühle zum Einsatz kam. Ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts werden Sägemühlen erstmals urkundlich erwähnt. Um nun ein Werk in dieser Größenordnung zu erstellen, brauchte Meister Marquard schon eine entsprechend geräumige Werkstätte. Was war nun dieser Meister Zehentner genau von Beruf? War er schon Schreiner oder noch Zimmermann? Höchstwahrscheinlich verfügte er über beiderlei Kompetenzen und war außerdem ein kunstfertiger Schnitzer. Zu Anfang des 15. Jahrhunderts, so berichten uns die Quellen, bildete sich der Schreiner als eigene Sparte durch Abtrennung vom Zimmererhandwerk heraus. Was waren die Gründe dafür? Die Aufträge vonseiten der Kirche, des Adels und eines wohlhabenden Bürgertums wurden zunehmend anspruchsvoller entsprechend deren gehobenen Bedürfnissen. Dies erforderte nun deutlich umfangreichere handwerkliche Fertigkeiten für immer differenziertere Funktionen im Möbelbau. Die Ansprüche der Stiftsherren zu erfüllen war der Meister durchaus in der Lage, spiegelt doch sein Werk dessen respektable Kunstfertigkeit in allen Facetten wider.
Ohne eine tüchtige Helferschar an Gesellen und Lehrbuben hätte Meister Marquard einen solch umfangreichen Auftrag allerdings nicht ausführen können. Gearbeitet musste entsprechend den natürlichen Lichtverhältnissen werden, das heißt lange Arbeitstage im Sommer, kurze im Winter. Offenes Licht kam aus verständlichen Gründen nicht infrage. Waren nun alle Teile schreinermäßig im Wesentlichen fertiggestellt, machten sich Schnitzer beziehungsweise Bildhauer ans Werk. Vorderfronten, Füllungen, Rückwände, das Gesprenge am Baldachin und so weiter werden reich mit Maßwerkornamentik dekoriert. Sicherlich waren dabei mehrere Schnitzer unter wesentlicher Mitarbeit des Meisters über Monate beschäftigt. War die Werkstattarbeit beendet, warteten jetzt einige Hundert Teile, an ihren Bestimmungsort geliefert zu werden. Auf steiler, holpriger Straße geht es nun mit Pferde- oder vielleicht sogar Ochsenfuhrwerk über den Hallthurm, durch die Bischofswies, den Tanzbichl hinauf, entlang der alten Reichenhaller Straße (den Weg über die Stanggaß gab es noch längst nicht), den Doktorberg hinunter, um endlich an der Stiftskirche anzulangen.
Der Auf- und Zusammenbau in dem gerade erst 140 Jahre alten Chor des Münsters könnte dann schon Wochen, wenn nicht gar Monate gedauert haben. Dabei dürfte der Chorraum eher einer großen Werkstätte als einem Ehrfurcht gebietenden Sakralraum geglichen haben. In das neue Chorgestühl wurden jetzt sechs Wangen und Trennwände des alten Vorgängergestühls mit eingebaut. Dabei handelt es sich um gitterartig durchbrochene, mit schwer zu enträtselnder Tiersymbolik gearbeitete Schnitzwerke aus der Zeit um 1320 bis 1350.
Diese besonders wertvollen Teile waren anlässlich einer Renovierung um 1900 ausgebaut und als desolat, vermorscht und nicht reparaturfähig erklärt worden, um diese anschließend für 600 Mark an das Nationalmuseum in München zu verkaufen. Als Ersatz wurden 1903 Kopien von Hofbildhauer Stephan Zechmeister angebracht.

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Damals wurden auch fast der gesamte Baldachin und Teile des Gesprenges erneuert. Unter dem Baldachin befinden sich auf beiden Seiten insgesamt 31 Sitze, in der Fachsprache auch Stallen genannt. Das Stiftskapitel umfasste aber zu jener Zeit 12 bis maximal 15 Kleriker. So war also noch genügend Platz für zahlreiche Laienbrüder, sogenannte Konversen, von denen uns die Quellen berichten. Diese entstammten ebenso wie die Chorherren adeligen Familien und nahmen am gemeinsamen Chorgebet teil. Über deren genaue Anzahl allerdings sind keine Angaben zu finden. Dass bei der Planung des Chorgestühls mit so vielen Sitzplätzen damals auch ein ausgeprägtes Repräsentationsbedürfnis ausschlaggebend war, ist naheliegend. Von Laienbrüdern gibt es aus späterer Zeit keine Berichte mehr, demnach musste deren Part von weltlichem Personal übernommen worden sein. Doch war dies bestimmt kein Grund, die nun freien Plätze unbesetzt zu lassen. Hofbeamte des Stiftes oder adlige Gäste dürften sich bei feierlichen Anlässen dort nicht ungern platziert haben. Heutzutage sind die sogenannten Kapitelstände, wie sie im lokalen Sprachgebrauch heißen, keinem exklusiven Personenkreis mehr vorbehalten und können von allen Kirchenbesuchern benutzt werden.
Zum Glück ist das Chorgestühl bis heute so gut erhalten geblieben beziehungsweise erhalten worden, nicht zuletzt dank wiederholter, wenn auch nicht immer ganz sachgerechter Instandsetzungen. So sorgten im Laufe der Zeit vorgenommenen Anstriche letztlich für eine düstere, fast schwarze Oberfläche. Das gegenwärtige Erscheinungsbild in einem helleren Ton des gealterten Eichenholzes erzielte man durch Abnahme der Farbschichten anlässlich der Kirchenrenovierung in den Sechzigerjahren. Damals wurde vom Denkmalamt auch eine Neubemalung der Wangen und Trennwände nach dem Muster der Originale im Nationalmuseum vorgeschlagen. Mit dieser Farbfassung in teils kräftigen Farbakzenten hätte man sich dem originalen Eindruck deutlich angenähert. Leider ist das unterblieben, könnte aber bei entsprechendem Interesse problemlos realisiert werden und ergäbe eine nicht zu unterschätzende optische Aufwertung des Ensembles.

Friedrich Schelle

 

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Allerlei Tiergestalten wie hier ein Löwe und ein Hirsch finden sich zwischen den
durchbrochenen Ranken der Stirn- und Scheidewangen

 

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Ein großer im Nest stehender Vogel und ein Einhorn
sind Teil der im Chorgestühl dargestellten Symbolwelt

 

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Verschlungene Drachen in den Stirnwangen symbolisieren die gebändigte Dämonie

 

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Auch wenn es nicht mehr im Originalzustand erhalten ist, gehört das Chorgestühl
zu den beeindruckendsten Ausstattungsstücken in der Stiftskirche

 

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Der Herzoglich Anhaltische Hofbildhauer Stephan Zechmeister baute nicht nur 1889 Berchtesgadens erstes E-Werk,
sondern fertigte auch 1903 die Kopien der Chorgestühl-Wangen an

 

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Fotos: Andreas Pfnür

 

 

 

 

 


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Auch wenn es nicht mehr im Originalzustand erhalten ist, gehört das Chorgestühl zu den beeindruckendsten Ausstattungsstücken der Stiftskirche.

 

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